Frauke Wilhelm hat als Sportpsychologin die Profimannschaft des FC. St. Pauli, das Nachwuchsleistungszentrum sowie die Profis von Hannover 96 betreut. Außerdem hat sie viele Jahre Athleten und Trainer am Olympiastützpunkt Niedersachsen in Hannover beraten. Aktuell ist sie die Sportpsychologin der U20 Nationalmannschaft des Deutschen Fußball-Bundes. Sie ist ehemalige Leistungssportlerin im Kunstturnen und aktuell hauptsächlich im Laufen aktiv.
Kindersport Wissen hat sie über die Probleme und Krisen, die bei Kindern im Sport vorkommen, befragt.
Kindersport Wissen: Welche Faktoren spielen bei der Sportartauswahl für Kinder eine Rolle und welchen Einfluss haben die Eltern darauf?
Frauke Wilhelm: Kinder beginnen in der Regel mit einer Sportart, weil sie eine Bewegungsbegeisterung haben, was zum Kindsein dazu gehört. Sie haben ein natürliches Bewegungsbedürfnis, Spaß daran sich auszuprobieren, Neues zu lernen und sich zu verbessern. Dazu kommt der soziale Aspekt – sie möchten ihre Freunde sehen.
Eine entscheidende Rolle bei der Sportartwahl spielen auch die Eltern. Sie stellen sich beispielsweise Fragen wie, ob der Sportverein in der Nähe ist, ob viele Kinder in der Umgebung diese Sportart ausüben und auch ob sie selbst von der Sportart begeistert sind.
„Ab der Pubertät haben Kinder immer mehr ihren eigenen Kopf“
Kindersport Wissen: Gibt es Krisen und Probleme bei Kindern, die sportbedingt sind? Wie äußern sich diese?
Frauke Wilhelm : Je länger Kinder eine Sportart betreiben, desto schneller merken sie, ob sie für sie geeignet ist oder, ob sie die Lust daran verlieren.
Nehmen wir den Leistungsfußball als Beispiel. Hier beginnen Kinder früh mit der Sportart. Meist finden sie sie anfangs großartig, möchten Fußballprofi werden und erleben dann in gewissen Altersstufen eine Krise, da sie merken, es reicht nicht für die Bundesliga. Sie müssen sich im Anschluss mit der Enttäuschung auseinandersetzen.
Wenn man als Kind große Ziele und Träume hat und merkt, dass sich diese wahrscheinlich nicht erfüllen werden, muss man sich mit der neuen Situation auseinandersetzen und die Frage stellen „warum mache ich diesen Sport in diesem leistungsorientierten Umfeld?“.
Bleibt man weiterhin im Leistungssport, können weitere Krisen durch die Konkurrenzsituation mit den Mitspielern entstehen. Das Kind verliert möglicherweise die Freude am Sport, wenn es merkt, dass die anderen besser sind und es selbst keine Spielzeit bekommt.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist das Trainerverhalten: Welche Ziele und Ansprüche hat der Trainer? Geht es ihm in erster Linie darum, Spaß an der Bewegung zu fördern oder wird schnell in ein Leistungskonzept übergegangen, in dem Druck aufgebaut und eventuell aussortiert wird.
Ab der Pubertät (ca. 12 Lebensjahr) haben Kinder immer mehr ihren „eigenen Kopf“, was zur normalen kindlichen Entwicklung gehört. Sie haben eine eigene Meinung und möchten sich abgrenzen. Wenn die Kinder mit etwas nicht einverstanden sind, äußern sie dies Erwachsenen gegenüber und zeigen, dass sie beispielsweise keine Lust auf eine Aktivität haben.
Im sportlichen Kontext kann problematisch werden, dass die Kinder weniger bereit sind, sich unterzuordnen und hauptsächlich ihre eigenen Interessen sehen.
Kindersport Wissen: Kann man die Ursachen dieser Probleme auch den Eltern zuordnen? Oder kann es auch am Kind selbst liegen?
„Der Jugendleistungssport funktioniert ohne Eltern nicht“
Frauke Wilhelm : Es muss nicht immer ein Konflikt zwischen Eltern und Kind sein, der dazu führt, dass Kinder die Lust am Sport verlieren. Die Gründe können auch innerkindlich liegen. Kinder beginnen früh mit einer Sportart und merken vielleicht später, dass diese nicht (mehr) zu ihnen passt.
Es kann auch daran liegen, dass ihnen der Anspruch nicht entspricht. Ich könnte es als leistungsorientiertes und ehrgeiziges Kind als störend empfinden, wenn es in meinem Umfeld um Breitensport geht und nicht um Leistung.
Andersherum ebenso: Ich möchte Breitensport betreiben und mein Umfeld ist allein auf Leistung ausgelegt.
Natürlich haben Eltern bedeutenden Einfluss auf die kindliche Sportentwicklung. Eltern sollten sich jedoch insoweit selbst reflektieren, ob sie beispielsweise aus ihrem eigenen Ehrgeiz heraus den Fokus zu schnell auf Leistung legen, was das Kind aber gar nicht möchte. Diesem geht es möglicherweise eher darum in seiner Freizeit Spaß beim Sport zu haben.
Klar muss man aber auch sagen, dass die meisten Kinder gar keinen Sport machen würden ohne die Initiative der Eltern.
Eltern suchen nach passenden Angeboten, organisieren den Sport und fahren ihre Kinder herum. Insbesondere der Jugendleistungssport funktioniert ohne Eltern nicht.
„Der Kindersport hat auch eine soziale Komponente für die Eltern“
Kindersport Wissen: Wie reagieren Eltern auf das Thema „Austritt aus der Sportart“?
Frauke Wilhelm: Wenn das Kind eines Tages sagt, dass es Handball jetzt doof findet oder lieber Federball spielen will, kann das für Eltern schwierig sein.
Manche Eltern sind auch froh darüber, dass ihr Kind aufhört Sport zu treiben, da alles was daran hängt (Fahrdienste, Termine am Wochenende etc.) von ihnen als belastend empfunden wird.
Anderen, die meist auch selbst sportlich aktiv sind, fehlt häufig das Verständnis und es kann für sie eine schwierige Situation darstellen, denn sie erleben selbst eine Enttäuschung.
Weiterhin hat der Kindersport auch eine soziale Komponente für die Eltern. Sie treffen andere Eltern während des Trainings und des Wettkampfes und können sich so in eine Community integrieren. Der Sportaustritt des Kindes bedeutet ein Wegfallen der Elterncommunity.
Des Weiteren gibt es das Phänomen, dass Eltern ihre eigenen Leistungsansprüche auf die Kinder übertragen. Wenn die Eltern selbst talentiert in der Sportart waren oder Leistungssport betrieben haben und das eigene Kind Potenzial hat, kommen Hoffnungen auf. „Das wäre doch schön, wenn meine Tochter bei den Olympischen Spielen im Langlaufen teilnehmen würde“.
Ähnlich verhält es sich, wenn Eltern im Sport gescheitert sind und ihren Traum weiterhin durch das Kind verfolgen. „Ich habe es nicht geschafft deutsche Meisterin zu werden, vielleicht schafft es mein Kind“.
Dass die Eltern großes Interesse am Sport des Kindes haben muss nicht zwingend negativ sein, denn häufig ist es ein bindender Faktor zwischen Eltern und Kind. Man findet zusammen etwas cool und positiv und kann sich jederzeit darüber austauschen.
Auch außerhalb des Sportes ist es normal, dass Kinder ihre Eltern gerne nachahmen. Wenn ich meinem Vater beim Kochen oder der Gartenarbeit zusehe, dann interessiert mich das auch. Findet meine Mutter Autos großartig, finde ich diese auch toll.
Kinder merken sehr schnell, was ihren Eltern Spaß macht und folgen ihnen.
Es können also unterschiedliche Konflikte durch den kindlichen Austritt aus dem Sport auf der Eltern-Kind-Ebene entstehen.
„Ist der sportliche Erfolg meines Kindes mir wichtiger als meinem Kind?“
Kindersport Wissen: Was können Eltern tun, damit sie eine gesunde sportliche Entwicklung des Kindes fördern?
Frauke Wilhelm : Man sollte sich als Elternteil vor Augen halten, dass das Kind in erster Linie Spaß an der Bewegung hat. Selbst wenn man leistungsorientiert denkt, darf der Spaß nie verloren gehen.
Eltern sollten sich mit der sportlichen Situation des Kindes auseinandersetzen, indem sie sich beispielsweise folgende Fragen stellen:
„Ist der sportliche Erfolg meines Kindes mir wichtiger ist als meinem Kind?“
„Bin ich anders zu meinem Kind nach einem Sieg oder einer Niederlage?“ Es gibt durchaus Fälle, in denen Eltern auf ihre Kinder sauer sind und nicht mit ihnen sprechen, wenn sie schlecht gespielt oder verloren haben.
„Ertappe ich mich dabei, lauthals ins Spiel hineinzurufen?“
„Beschimpfe ich Gegner oder Schiedsrichter?“
„Freut sich mein Kind, wenn ich beim Training zusehe?“
So können sich Eltern im Sport reflektieren und feststellen, ob ihre Handlungen ihr Kind positiv beeinflussen und unterstützen.
Wie bereits erwähnt: Egal, ob das Kind leistungsorientiert ist, sollten Eltern den Fokus darauf legen, dass es Spaß am Sport und der Bewegunghat. Dass das Kind Spaß an der Bewegung hat ist ein wichtiger Faktor, damit das Kind langfristig sich sportlich betätigt.
Es ist gut und wichtig, dass Eltern Sport fördern und sie können auch da hinterher sein. Zu einem 12-jährigen Kind beispielsweise sagen: „Wir möchten nicht, dass du gar keinen Sport mehr treibst, es ist aber okay, wenn du eine neue Sportart ausprobieren möchtest“.
In diesem Zusammenhang ist es ebenso wichtig, dem Kind seine Freiheit zu geben. Es soll offen kommunizieren können, wenn es eine andere Sportart ausüben möchte, keinen Leistungssport machen oder von einer Mannschaftssportart zu einer Einzelsportart wechseln möchte.
„Insbesondere im Leistungssport werden Trainer an den Erfolgen der Kinder und Jugendlichen gemessen“
Kindersport Wissen: Wie reagieren Trainer darauf, wenn sich ein Kind vom Sport abwendet?
Frauke Wilhelm : Trainer investieren sehr viel Zeit und Kraft für die Kinder und im Breitensport häufig unentgeltlich, weil sie die Sportart und die Arbeit mit Kindern lieben.
Trainer fühlen sich in solchen Fällen häufig hilflos. Sie wissen nicht, wie sie auf die Situation reagieren sollen. Sie wollen das Kind nicht verlieren, weshalb manche den Kindern ein schlechtes Gewissen machen oder Druck aufbauen, indem sie beispielsweise sagen „du kannst deine Mannschaft jetzt nicht im Stich lassen“ oder „wenn du nicht zum Training kommst, spielst du nicht“.
Hier ist wichtig, den pädagogischen Hintergrund zu haben und zu wissen, dass es zur normalen kindlichen Entwicklung gehört, mal keine Lust zu haben oder andere Interessen wichtiger zu finden. Es kann hilfreich sein, so einem Kind etwas mehr Freiheit zu geben, damit es sich selbst für den Sport entscheiden kann und wieder Lust bekommt.
Weiterhin kann es helfen, den Leistungsgedanken abzuschalten, damit das Kind die Freude an der Sportart wiederentdeckt.
Das ist für manche Trainer schwierig, denn insbesondere im Leistungssport werden Trainer an den Erfolgen der Kinder und Jugendlichen gemessen.
Kindersport Wissen: Was können Trainer den Eltern mitgeben, damit es nicht zu Schwierigkeiten in Bezug auf den Trainings- und Spielbetrieb kommt?
„Man kann als Trainer die Eltern auch inhaltlich abholen“
Frauke Wilhelm : Eltern werden im sportlichen Kontext häufig vergessen werden. Manche Trainer setzen sich zu wenig mit ihnen auseinander und wenn sie es machen, dann geht es darum die Wäsche zu waschen oder die Kinder zu Trainings und Turnieren zufahren. Sonst sollen sie sich möglichst wenig einmischen.
Eine gute Sache um die Eltern einzubeziehen sind
beispielsweise Elternabende, bei denen die Trainer erklären können, was von den
Eltern erwartet wird, was ihre Aufgaben sein können, wie sie sich einbringen
können, aber auch welche Regeln für die Eltern gelten.
Wichtig ist es in diesem Rahmen auch mitzuteilen, wie Eltern mit dem Trainer
Kontakt aufnehmen können. Man sagt beispielsweise: „Nach dem Training bin ich
noch am Platz und ihr könnt mich gerne ansprechen, aber ich möchte nicht abends
nach 21 Uhr angerufen werden“.
Für einen reibungslosen Ablauf sind „Spielregeln“ für Eltern von großer Bedeutung. Die Trainer sollten klar mitteilen, was erwünscht ist und was nicht. Dass die Eltern beispielsweise von außen nichts hineinrufen, außer vielleicht „Toll gemacht!“ und auch die Aktionen im Spiel nicht kommentieren sollen.
Weiterhin kann man die Eltern auch inhaltlich abholen und ihnen beispielsweise erklären, warum man eine bestimmte Entscheidung getroffen hat. Was war die Idee dahinter, was ist das Ziel des Trainings, wie ist das Training aufgebaut und worauf wird besonders geachtet.
Wenn ich als Trainer merke, dass Eltern gegen eine positive sportliche Entwicklung des Kindes handeln, sollte ich das Gespräch suchen und meine Wahrnehmung schildern. Der Ton sollte hier stets respektvoll sein.
Ich bin also fest davon überzeugt, dass es im Breitensport wichtig ist, im Vorfeld Strukturen und Regeln festzulegen und sich miteinander zu arrangieren.
Kindersport Wissen: Vielen Dank für dieses Gespräch.
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